Sonntag, 7. September 2008

Die Sache mit den Zeitfenstern

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, titelte schon Marcel Proust, und mir geht es wie ihm. Letzte Woche habe ich gesucht und analysiert. Und siehe da, ich wurde fündig. Endlich weiß ich, wo die Zeit, die ich so dringend zum Schreiben bräuchte, versickert. Schuld sind die Ärzte.

Mit selbigen habe ich als brotberufliche Medizinjournalistin permanent zu tun – im Gegenzug besteht die primäre Aufgabe der Ärzte aber nicht darin, für Journalisten und –innen parat zu stehen. Fazit: Jede gelungene telefonische Kontaktaufnahme erfordert zwischen drei und siebzehn Anläufen.


Ich: Guten Morgen (es folgt ausführliche Vorstellung plus Nennung des Verlags und des Mediums) könnte ich bitte Prof. V sprechen?

Sekretärin: Worum geht es?

Ich: Um ein kurzes Interview zum Thema photodynamische Diagnostik beim Harnblasenkarzinom.

Sekretärin: Der Herr Professor ist noch auf Visite. Versuchen Sie es in einer halben Stunde noch einmal.


Die halbe Stunde lässt sich bestens mit weiteren Telefonaten füllen.

Ich: Hallo (Rest wie oben), könnte ich bitte Prof. W sprechen?

Sekretärin: Der Herr Professor operiert gerade.

Ich: Ah. Lässt sich ungefähr abschätzen, wie lange es dauern wird?

Sekretärin: Auf jeden Fall ist er ab halb elf kurz da, denn da hat er einen Termin bis elf. Wenn sie es fünf nach elf versuchen könnten?

Ich: Fünf nach elf. In Ordnung. Danke.


Drittes Telefonat:
Ich: (Wie oben, nur ist diesmal Prof. X Ziel meines Anrufs)

Sekretärin: Haben wir nicht gestern schon ein paar mal miteinander gesprochen?

Ich: Ja, mit Ihnen habe ich gesprochen, aber leider nicht mit Prof. X. Ist er jetzt eventuell hier?

Sekretärin: Ja, aber er telefoniert gerade. Habe ich Ihre Nummer? Ja? Wir rufen gleich zurück.


Gut, ich halte die Leitung frei. Die fünf Minuten Wartezeit (oder so) mit Schreiben zu überbrücken hat keinen Sinn. Ein kurzer Blick in das eine oder andere Forum schon.

Der Begriff „gleich“ erweist sich als enorm dehnbar. Fünfzehn Minuten später versuche ich es wieder.

Sekretärin: Tut mir leid, der Herr Professor hat jetzt eine Besprechung. Wir melden uns, sobald er wieder da ist.

Das kann alles bedeuten, von in einer halben Stunde bis nie. Wie auch immer, in zehn Minuten soll ich Dr. Y anrufen, mit dem ich für 11 Uhr ein Telefoninterview vereinbart habe. Wenn das pünktlich stattfindet, verpasse ich aber den hoffentlich wieder von der Visite zurückgekehrten Prof. V.

Die zehn Minuten lassen sich unmöglich produktiv nutzen. Dafür gehen sich vier Runden Minesweeper aus.

Dr. Y, so erklärt mir seine mitfühlende Sekretärin, hat den Interviewtermin nicht vergessen, aber er musste zu einer Not-OP und bittet um Verschiebung. Nein, nicht heute nachmittag, besser morgen. 14 Uhr, bevor er in die Ordination geht.

Ich verdränge, dass meine Deadline in drei Tagen ist und Dr. Y den Text sicher gegenlesen will und versuche erneut mein Glück mit Prof. V, der nicht mehr auf Visite ist, jetzt aber telefoniert. Und zurückrufen wird. Bestimmt.

Noch zehn Minuten bis elf, also 15 Minuten bis zum nächsten Versuch bei Prof. W. Nicht genug Zeit zum Schreiben, aber ausreichend, um mich durch meine üblichen Blogs zu lesen.

Drei nach elf läutet das Telefon. Es ist mitnichten der erwartete Prof. X, sondern Dr. Z., der mir gerne die Korrekturen für den Artikel durchgeben möchte, den ich ihm vor drei Tagen gemailt habe. Nein, er möchte die Ergänzungen nicht direkt ins Dokument schreiben, aber den geänderten Artikel möchte er schon noch einmal sehen. Als wir fertig sind, ist es zwanzig nach elf und meine bösen Ahnungen, was Prof. W angeht, bestätigen sich. Er war kurz da und ist nun wieder weg. Aber wenn ich es in zehn Minuten noch einmal versuchen möchte …

Natürlich möchte ich. Aber ich möchte auch meinen Roman schreiben. Davor muss ich aber meine Artikel schreiben und dafür bräuchte ich Prof. X, Y, und Z.

Revolutionärer Gedanke: Der zehn-Minuten-Schreibzyklus. Für mich wäre der ungemein produktivitätssteigernd.

3 Kommentare:

teamor hat gesagt…

Oh! Mein! Gott!
Kommt mir das bekannt vor? Es kommt. Gott sein Dank nicht aus Eigenerfahreung, sondern als zimmerteilende Mitwisserin einer ähnlich gefolterten Journalistenkollegin.
Was bin ich froh, dass ich für Layouts kaum persönlichen Kundenkontakt halten muss - wobei, da fällt mir ein - Frau S. wartet seit Tagen auf meinen Rückruf bezüglich der neuen Image-Kampagne ... Ich glaub, ich lass sie noch ein bisschen Mine-Sweeper spielen und schreibe ein paar Zeilen an meinem Roman ;-)))

Beileidge Grüße
Gabi
Ich glaub, ich

Anonym hat gesagt…

Hm, ich überlege gerade, ob ich meinen derzeitigen Job an den Nagel hängen und stattdessen als Telefonprovider für Journalisten reich werden soll. Der Renner könnte dann eine besonders preisgünstige Interview-Flatrate werden ;-)

Liebe Ursula, Du hast mein aufrichtiges Mitgefühl. Die kaum vorhandene Erreichbarkeit der Herren Professoren ist mir aus meinem Klinik- und Unialltag nur allzusehr bekannt.

Trotz allen hätte Karl Valentin an Deinem Text seine wahre Freude gehabt. Der arme Buchbinder Wanninger lässt grüßen. Aber solange Du Dich noch nicht mit "Hier ist die ... dings ... äh, wie heiß ich eigentlich?" meldest, ist die Welt noch in Ordnung.

Hoffentlich kommst Du trotzdem noch zum Schreiben. Ich will doch irgendwann damit angeben können, dass ich die erste Bestsellerautorin persönlich kenne, deren Konterfei als Handylogo heruntergeladen werden kann ;-)

(Und jetzt wird es Zeit, dass ich mir diese Seite mal ansehe.)

Grüße
Wulf

Ursula hat gesagt…

Liebe Gabi, danke - Mitgefühl ist immer willkommen. Aber es geht ja noch schlimmer, ich bedaure immer die Anzeigenleute ...

Lieber Wulf, den Job kannst du demnächst doch eh an den Nagel hängen, wenn deine Bestseller die Charts stürmen!

Es grüßt euch (heute völlig stressfrei und ob dieser Tatsache sehr verwirrt)
Ursula

 

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